Interview

Ausufernde Regulierung, Angst vor Greenwashing und die Frage nach der Finanzierung – wie können wir die Nachhaltigkeitstransformation als Chance nutzen?

Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V., Mitglied des gf. Vorstands AdAR, im Gespräch für die BOARD mit Ralph Hientzsch, Geschäftsführender Gesellschafter Consileon Frankfurt und Schweiz

Ralph Hientzsch ist Geschäftsführender Gesellschafter Consileon Frankfurt und Schweiz. Er hat in den letzten Jahren ESG Projekte erfolgreich umgesetzt, zahlreiche Beiträge und Vorträge im Bereich ESG gehalten und ist Initiator des ESG Transformation Award. Für die BOARD spricht Marc Tüngler mit ihm über die vielfältigen Herausforderungen, vor die die Nachhaltigkeitstransformation börsennotierte Unternehmen stellt, und welche Auswirkungen dies für Aufsichtsräte mit sich bringt.

BOARD: Die Unternehmen bereiten aktuell die Umsetzung der europäischen Regeln zur ESG-Berichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD) mit Nachdruck vor – nimmt die Nachhaltigkeitstransformation damit weiter Fahrt auf?

Ralph Hientzsch: Mit der CSRD wird es nach Schätzungen EU-weit zu einer Ausweitung der berichtspflichtigen Unternehmen von ca. 11.600 auf 49.000 kommen. Viele Unternehmen sind erstmals von der CSRD-Berichtpflicht betroffen und es ergibt sich ein großer Arbeits- und Projektaufwand. Danach müssen die Unternehmen einerseits über Nachhaltigkeitsaspekte berichten, die ihre Profitabilität oder Risikolage beeinflussen (Outside-In-Perspektive), sowie andererseits über die eigene Wertschöpfungskette und wie diese die Umwelt beeinflusst (Inside-Out-Perspektive). In der Konsequenz bietet sich Unternehmen mit der CSRD und der Wesentlichkeitsanalyse die Chance, die zentralen Nachhaltigkeitsaspekte des eigenen Geschäftsmodells umfassend zu analysieren und strategisch ein zu werten.

BOARD: Wie schätzen Sie die Auswirkungen für die Arbeit von Aufsichtsräten ein?

Ralph Hientzsch: Die Aufsichtsräte haben im ersten Schritt die Aufgabe, die Einhaltung und Umsetzung der CSRD-Berichtspflicht zu gewährleisten. Gleichzeitig bietet sich Aufsichtsräten die Chance, das Thema strategisch in den Governance-Strukturen der Unternehmen zu positionieren und zu verankern. Das Thema Nachhaltigkeit und ESG sollte daher in der Aufsichtsratsarbeit einen breiten, strategischen Raum einnehmen. Dieser sollte sich konkret über den Prüfungs-, den Strategie-, Risiko- sowie den Vergütungsausschuss erstrecken.

Die CSRD führt konkret zu einer Aufwertung der ESG Berichterstattung bei zunehmender Angleichung an die gewohnten Standards der Finanzberichterstattung. Für die deutlich größere Zahl an Unternehmen entsteht eine erhebliche Ausweitung der zu berichtenden Datenpunkte mit entsprechenden Herausforderungen an die internen Prozesse und das Datenmanagement in der IT. Positiv ist, dass mit den European Sustainability Reporting Standards (ESRS) einheitliche Anwenderstandards vorgegeben werden und damit eine bessere Vergleichbarkeit der Kennzahlen zu erwarten ist. Durch die Verknüpfung der Berichtsinhalte mit den Ergebnissen der Wesentlichkeitsanalyse erhöht sich für Unternehmen der Spielraum für die eigene ESG-Berichterstattung.

BOARD: Wie schauen Sie auf die Expertise der Aufsichtsräte, um eine Beurteilung der Nachhaltigkeitsberichterstattung vornehmen zu können?

Ralph Hientzsch: Aus meiner Perspektive bringen viele Aufsichtsräte die notwendigen Kenntnisse über das individuelle Geschäftsmodell und die Branchenerfahrung ihrer Unternehmen mit und können daher die Frage nach der Wesentlichkeit von unterschiedlichen Nachhaltigkeitsthemen beurteilen. Kritischer sehe ich bei Aufsichtsräten und Vorständen das Know-how zur Komplexität der ESG Regulatorik, der Einschätzung technologischer Innovationen sowie der Entwicklungen der Finanzindustrie zum Thema ESG mit den Stichworten Transformationsfinanzierung und Impact Investing.

BOARD: Können Sie diese speziellen Know-how-Anforderungen etwas erläutern?

Ralph Hientzsch: Wir haben mit neuen Technologien und Verfahren zur Reduktion des CO2-Ausstoßes zu tun. Exemplarisch seien hier die Produktion von grünem Stahl-Motoren mit Wasserstoffantrieb- sowie der Einsatz synthetischer Kraftstoffe für die Luftfahrt genannt. Die Modelle der CO2-Footprint Bemessung entwickeln sich und werden präziser. Zukünftige Investitionen und der Zugang zu neuem Kapital für Unternehmen werden zukünftig viel stärker an ESG-Kriterien gekoppelt. Unter den Stichworten Transformationsfinanzierung und Impact Investing entstehen in der Finanzindustrie neue Produkt- und Serviceangebote. Innovative Projekte und Initiativen unter anderem in diesen Feldern prämieren wir im Rahmen des ESG Transformation Award.

BOARD: Über die CSRD hinaus ist ein erheblicher Anstieg der ESG-Regulierung in Europa zu beobachten, von dem insbesondere der Finanzsektor betroffen ist, der wiederrum als Schlüsselakteur der Nachhaltigkeitstransformation gilt. Bremst Europa den nachhaltigen Wandel durch eine insgesamt zu starke Regulierung aus?

Ralph Hientzsch: Die Regulatorik ist tatsächlich eine große Herausforderung auch für die Finanzindustrie und diese führt zu steigenden Kosten und erheblichen Anforderungen an digitalisierte Prozesse und die IT. Zahlen belegen die steigende Bedeutung von ESG für die Finanzindustrie. Weltweit ist 2023 das nachhaltig verwaltete Vermögen 2023 auf 3,4 Billionen US-Dollar angestiegen und entspricht einem Plus von 15 % zum Vorjahr bei unterschiedlichen Entwicklungen in USA und Europa. Bei der Emission von Green Bonds verzeichnen wir in Deutschland einen starken Anstieg in 2023 auf 17,25 Mrd. € in 2023, von 11,5 Mrd. im Jahr 2020. Insgesamt sind damit über 55 Mrd. grüne Anleihen national im Umlauf. Nach den USA und China ist Deutschland damit der drittgrößte Markt für grüne Anleihen weltweit. Die Finanzindustrie sollte trotz regulatorischer Hürden die strategischen Chancen von ESG für sich nutzen.

BOARD: Viele Unternehmen werben bereits mit ESG-Impact, gleichzeitig können z.B. am Finanzmarkt nicht alle Anlageprodukte die eigenen Nachhaltigkeitsversprechen einhalten. Wie kann das sogenannte Greenwashing bekämpft werden?

Ralph Hientzsch: Unternehmen und die Finanzindustrie sollten dem sogenannten Greenwashing mit Transparenz, Offenheit und glaubwürdiger Kommunikation begegnen. Trotz aller Taxonomien hat Nachhaltigkeit auch noch Graubereiche, wodurch zweifelsfreie Einstufungen erschwert werden. Unklarheiten des regulatorischen Rahmens zum Beispiel mit Blick auf die Kriterien von Artikel-8 und 9-Produkten der Offenlegungs-Verordnung haben hier beigetragen. Umso wichtiger ist es jetzt mit Blick in die Zukunft, gerade im Bereich Impact Investing, ein gemeinsames Verständnis zu definieren und als Anbieter durch ein strukturiertes Impact-Management und Monitoring transparent über ESG Wirkungen zu berichten. Dies anhand quantitativer, definierter und nachvollziehbarer Kennzahlen. Dies gilt analog für die ESG Kommunikation der berichtpflichtigen Unternehmen der Realindustrie.

BOARD: Durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt aus dem Jahr 2021 fehlen im Klima- und Transformationsfonds rund 60 Mrd. €, die für die Unterstützung der Nachhaltigkeitstransformation eingeplant waren. Wie werden die strategischen Parameter der Transformationsfinanzierung dadurch beeinflusst?

Ralph Hientzsch: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, aller Bestandsgarantien zum Trotz, dass ein erfolgreicher Wandel nicht auf einem blinden Vertrauen in staatliche Subventionen fußen sollte. Allen Akteuren sollte von Beginn an klar gewesen sein, dass die Nachhaltigkeitstransformation zunächst einmal Geld kosten wird und hierfür privates Kapital in signifikanter Größenordnung mobilisiert werden muss. Unternehmen mit hohem Transformationsbedarf, etwa mit energieintensiven Geschäftsmodellen, haben durch den Rahmen des europäischen Emissionshandelssystems im Angesicht des steigenden CO2-Preises keine andere Wahl, als die eigene Transformation schnellstmöglich anzugehen. Hier geht es um ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig bietet die Nachhaltigkeitstransformation die Chance, durch eine proaktive, kluge Positionierung strategische Vorteile zu erzielen.

BOARD: Was sind die wichtigsten Handlungsempfehlungen aus Ihrer Beratungsarbeit und als Initiator des ESG Transformation Award?

Ralph Hientzsch: Für Aufsichtsräte und Vorstände sehe ich vier pragmatische Handlungsempfehlungen:

1.    Meistern Sie die regulatorische Pflicht pragmatisch und starten Sie die eigene ESG Transformation ganzheitlich und ressortübergreifend jetzt. Verstehen Sie dabei ESG als zentralen, strategischen Erfolgsfaktor.
2.    ESG Ziele im Unternehmen strategisch erarbeiten, abstimmen, anvisieren und im Unternehmen transparent machen. Unser ESG Transformation Award zeigt, dass Vorreiter in ihren Branchen einen balancierten Zielrahmen und einen transparenten Transformationsplan entwickelt haben.
3.    Nachhaltigkeit hat einen strategischen Nutzen – auf Basis erweiterter KPIs führt die Verbindung der Erreichung von ESG Zielen mit der konkreten Vorstandsvergütung zur gesteigerten Umsetzung von ESG Zielen. Gleichzeitig geht es um den Change Prozess zur Integration von Nachhaltigkeit in die Unternehmenskultur.
4.    Mit Nachhaltigkeit lernen ist das Gebot der Stunde. Eine systematische Qualifizierung der Aufsichtsräte in Regulatorik, Lieferketten, Technologie und Entwicklungen der Finanzindustrie ist zu etablieren.

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